Die Konstanzer SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lina Seitzl diskutiert mit Expertinnen und Experten
Was 30 Jahre lang erfolglos blieb, ist nun vollbracht. Der Deutsche Bundestag hat am 17. März eine Wahlrechtsreform beschlossen. Doch was genau verändert diese Reform eigentlich? Und ist die neue Regelung wirklich gerecht?
Um über diese Fragen zu diskutieren, hatte die SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lina Seitzl am vergangenen Donnerstag, den 06. April in die Freiräume in Konstanz eingeladen. Mit Dr. Johannes Fechner, MdB und Prof. Dr. Joachim Behnke nahmen gleich zwei Mitglieder der Bundestagskommission zur Reform des Wahlrechts an der Diskussion teil und gewährten den Bürgerinnen und Bürgern Einblicke in den Entstehungsprozess und die Historie der Reform.
Der Vorsitzende der Wahlrechtskommission und Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion Dr. Fechner zeigte im Verlauf der Diskussion deutlich auf, warum die Reform notwendig war: „Ohne eine Reform wäre der Bundestag immer weiter angewachsen. Eigentlich sollte der Bundestag nur die gesetzliche Regelgröße von 598 Abgeordneten haben. Durch das Wahlsystem mit Überhangs- und Ausgleichmandaten steigt die Anzahl der Abgeordneten jedoch jedes Jahr weiter an. Für jedes Überhangmandat der CSU gibt es aktuell beispielsweise 16-17 Ausgleichsmandate der anderen Parteien. Das können wir so nicht weiterführen.“
Kim Naomi Bucher, Vorsitzende der Verfassten Studierendenschaft an der Universität Konstanz, brachte vor allem die Perspektive junger Menschen auf die Reform in die Diskussion ein: „Die Reform ist gerade für uns junge Menschen sehr wichtig. Denn Sie verhindert, dass der Bundestag auch in Zukunft immer weiter anwächst.“
In seltenen Fällen wird der Wegfall der Überhang- und Ausgleichmandate dazu führen, dass ein Wahlkreissieger kein Direktmandat erhält. „Natürlich haben wir das bedacht. Es ist aber keine Herabwürdigung des Direktmandates oder des Wählerwillens. Gerade der Wegfall der Ausgleichsmandate führt dazu, dass im Bundestag künftig prozentual eher mehr direktgewählte Abgeordnete sitzen werden. Die Reform ist dadurch auch nicht ungerecht. Im Grunde genommen haben wir lediglich die Wettbewerbskriterien erhöht: Bisher brauchte man nur eine relative Mehrheit im Wahlkreis, um in den Bundestag einzuziehen – egal ob man von 20 oder von 45 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gewählt wurde. Jetzt wird zusätzlich betrachtet, wie man im Verhältnis zu den Kolleginnen und Kollegen der eigenen Partei abschneidet“, führte der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Behnke seine demokratietheoretische Sicht auf die Reform aus.
Auch die Beschwerden der CSU und DIE LINKE über die Abschaffung der Grundmandatsklausel seien nicht stichhaltig. „Was Karlsruhe angeht, bin ich ganz entspannt“, kommentierte Dr. Fechner die Ankündigung der CSU gegen die Wahlrechtreform zu klagen. Prof. Behnke stellte ebenso klar: „Es ist schon eine Verschlechterung für manche, aber das macht es noch lange nicht ungerecht. Die Grundmandatsklausel ist ja die Ausnahme von der 5-Prozent-Hürde. Die Abschaffung der Grundmandatsklausel lässt sich daher durchaus rechtfertigen. Wenn die CSU sich durch ihre Kandidatur in nur einem Bundesland vorbehält Interessenspolitik für dieses Bundesland zu machen und die entsprechenden Vorteile davon zu genießen, dann muss sie auch das Risiko tragen, die 5%-Hürde in der Gesamtrepublik gegebenenfalls nicht zu erreichen“.
Den beiden Bundestagsabgeordneten Dr. Fechner und Dr. Seitzl war in der Diskussion vor allem eines wichtig: Das Wahlrecht sollte sich niemals an Parteien und deren aktuellen Situationen orientieren, sondern im Allgemeinen die besten Lösungen bieten. Das stellte Dr. Seitzl auch heraus, als der Moderator des Abends, Dominik Greis sie nach ihren Wahlchancen mit dem neuen Wahlrecht fragt: „Es darf in der Frage nicht um meine Person gehen. Natürlich ist das schwer zu trennen, aber es ist wichtig da konsequent zu sein. Die Wähler wollen ein kleineres Parlament und trotzdem muss es gerecht sein. Das sind die Ziele der Reform – ganz unabhängig von persönlichen und parteipolitischen Befindlichkeiten. Unser Mandat ist ein Mandat auf Zeit. Das sollten wir uns immer bewusst machen. Ich habe großen Respekt vor den vielen Mitgliedern der Ampel-Parteien die mit ihrem „Ja“ zur Reform an ihrem eigenen Mandat gesägt haben. Diese Größe hätte ich mir auch von den Kolleginnen und Kollegen der Nichtregierungsparteien gewünscht.“
Ein Besucher der Veranstaltung hakte nach, wieso man die Wahlkreise denn nicht einfach verdoppelt habe. „Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mal ausgerechnet, dass ich pro Woche durchschnittlich 100 Stunden arbeite. Stellen Sie sich mal vor, wie meine Woche aussehen würde, wenn ich einen doppelt so großen Wahlkreis hätte“, gab Dr. Fechner zu bedenken. Auch Seitzl führte an, dass die Abgeordneten unbedingt im Wahlkreis präsent sein müssten, um die Distanz zum politischen Berlin zu verringern. Schon heute gebe es gerade im ländlichen Bereich sehr große Wahlkreise.
Einig waren sich alle Diskussionsgäste vor allem darüber, dass eine überparteilich getragene Reform ein deutlich besseres Zeichen gewesen wäre. „Doch das war mit der CDU/CSU grundsätzlich nicht zu machen. Seit 30 Jahren wird an der Reform gearbeitet. Die Union hat bislang nur Vorschläge gemacht, von der sie sich eigene Vorteile versprochen hat. Auch jetzt war es trotz unseres Entgegenkommens nicht möglich, einen Kompromiss zu finden. Die Alternative wäre gewesen, wieder überhaupt nichts zu tun!“, erklärt Dr. Fechner, warum die Reform schließlich ohne Zustimmung der Union beschlossen wurde.
Doch wie soll es nun weitergehen? Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hatte bereits angekündigt, noch in dieser Legislatur weitere Veränderungen angehen zu wollen. Zum einen soll die Legislatur von vier auf fünf Jahre verlängert werden, zum anderen soll das Wahlalter auf 16 Jahre heruntergesetzt werden. „Dafür bräuchte es aber eine Zweidrittelmehrheit. Die Ampel kann das also ohne die CDU/CSU nicht umsetzen. Warum diese das Wahlalter ab 16 so vehement ablehnt, kann ich nicht nachvollziehen. Junge Menschen sollen mit 16 Jahren bereits ihre Berufswahl treffen, an der Universität Konstanz studieren junge Menschen bereits mit 17 Jahren. Aber wählen dürfen sie nicht? Das ergibt für mich keinen Sinn“, kritisiert Seitzl und hofft für die künftigen Vorhaben auf ein Umdenken bei der Union.
Bild: v.l.n.r. Moderator Dominik Greis, StuVe-Vorsitzende Kim Naomi Bucher, SPD-Justiziar Dr. Johannes Fechner MdB, Wahlrechtsexperte Prof. Dr. Joachim Behnke und die Konstanzer SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lina Seitzl